Parteien, Organisationen, Bewegungen in der Wendezeit
Web Source
Extent and Medium
Sammlung
108 Aufbewahrungseinheiten
1,8 laufende Meter
Scope and Content
Bestandsbeschreibung
Zeitgeschichtlicher Hintergrund:
Im Zuge der auf Glasnost und Perestroika gerichteten Politik der sowjetischen Partei- und Staatsführung unter Michail Gorbatschow entwickelte sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auch in der DDR ein gegen die SED formuliertes oppositionelles Gedankengut. Neben der SED und den in der Nationalen Front der DDR vereinten Blockparteien CDU, DBD, LDPD und NDPD sowie den Massenorganisationen formierten sich in den Jahren 1989/90 neue politische Parteien, Organisationen und Bewegungen.
Als Vorläufer dieser oppositionellen Bewegung hatten sich in den 80er Jahren informelle alternative Gruppierungen zu verschiedenen Themen wie "Frieden", "Menschenrechte", Ökologie", "Frauen" und "Dritte Welt" v. a. im Umfeld der evangelischen Kirche der DDR gebildet. Das Ziel dieser Initiativgruppen war die Herstellung von kritischer Öffentlichkeit für die Demokratisierung der DDR-Gesellschaft. So wurde bereits im Januar 1986 in Ost-Berlin die Initiative Frieden und Menschenrechte als erste Bürgerrechtsinitiative der DDR gegründet. Im Oktober 1989 konstituierte sie sich als politische Organisation.
Vor dem Hintergrund einer spontanen Protestbewegung in der DDR, die sich u. a. am Verbot der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" und verschiedener sowjetischer Filme, an der offensichtlichen Fälschung der Kommunalwahlen im Mai 1989 und schließlich an der im Sommer 1989 einsetzenden Ausreisewelle von DDR-Bürgern in die BRD entzündete, traten im Verlauf des Jahres 1989 die Bürger- bzw. Bürgerrechtsbewegungen aus dem Rahmen der Kirche heraus.
Am 9. Sept. 1989 gründeten 30 Bürgerrechtler aus der ganzen DDR das Neue Forum - ein Versuch, unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte über die kirchliche Öffentlichkeit hinaus zu einem kollektiven, demokratischen Dialog über Reformmöglichkeiten in der DDR zusammenzuführen. Das Neue Forum wirkte im weiteren Verlauf des gesellschaftlichen Umbruchs im Jahr 1989 als politische Plattform der Oppositionellen aus der ganzen DDR und als größte DDR-weite Bürgerorganisation mit zeitweilig über 200 000 Mitgliedern und Sympathisanten.
Neben dem Neuen Forum entstanden 1989/90 weitere oppositionelle Vereinigungen bzw. Parteien wie die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, der Demokratische Aufbruch, die Sozialdemokratische Partei, die Vereinigte Linke und die Grüne Partei. Die Bürgerbewegungen verstanden sich als alternative Organisationsform zu den traditionellen Parteien und Organisationen und als politische Interessenvertretung der Bürger. Ihr politisches Anliegen war es, die Gesellschaft durch die Bürger selbst mittels Dialog, Kompromiß, Konsens und Pluralismus zu organisieren und eine kritische Öffentlichkeit für die Demokratisierung der DDR-Gesellschaft herzustellen.
Beispielhaft dafür stand u. a. die Einrichtung der Runden Tische im Dezember 1989. Am Zentralen Runden Tisch waren sowohl die sogenannten politisch alten Kräfte wie die SED, die Blockparteien, der FDGB und die VdgB als auch die obengenannten neuen Bürgerbewegungen, Organisationen und Parteigründungen vertreten. Beide Gruppen hatten jeweils 19 Stimmen. Der Runde Tisch besaß keine parlamentarische oder Regierungsfunktion, verstand sich aber als Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in der DDR und übte seine Tätigkeit bis zur Durchführung der Volkskammerwahlen am 18. März 1990 aus. Mit ihm gelang es den Bürgerrechtlern, die DDR-Gesellschaft tiefgreifend zu demokratisieren und darüber hinaus die Gewaltfreiheit und die politische Stabilität in der Wendezeit zu erhalten.
Am 1. Dez. wurde durch die Volkskammer der Führungsanspruch der SED aus der Verfassung gestrichen. In der Folge grenzten sich sowohl die neu gegründeten Parteien, Organisationen und Bewegungen als auch die bestehenden politischen Kräfte der DDR deutlich voneinander ab. Entsprechend ihrer jeweiligen politischen Ausrichtung kam es zur Formierung verschiedener Bündnisse.
In der Allianz für Deutschland, einem Bündnis der Parteien der Mitte, hatten sich die CDU (Ost) der Demokratische Aufbruch und die Deutsche Soziale Union zusammengefunden. Nach dem Wahlerfolg der Allianz im März 1990 beschloß die DBD, die nur noch 2,18 Prozent der Wählerstimmen erhalten hatte, am 15. Sept. 1990 durch eine zentrale Delegiertenversammlung der Partei in Borkheide den Beitritt zur nun vereinten CDU.
Das liberale Spektrum beanspruchte ein Bund Freier Demokraten, bestehend aus F.D.P. der DDR, der LDP (in der Erneuerung befindliche LDPD) sowie der Deutschen Forumpartei, die aus einer Abspaltung des Neuen Forum im Bezirk Karl-Marx-Stadt hervorging. Nach den Volkskammerwahlen fand auch die NDPD, die nur 0,39 Prozent der gültigen Stimmen erhalten hatte, Eingang in dieses Bündnis. In Anbetracht des Wahlergebnisses beschloß der Parteivorstand am 28. März 1990 den korporativen Beitritt der NDPD zum Bund Freier Demokraten. Dem stimmten am 31. März 1990 auf der letzten NDPD-Parteikonferenz 500 Delegierte aus allen Kreisverbänden zu. Die Liberalen der DDR schlossen sich im August 1990 mit der bundesdeutschen F.D.P. zur ersten gesamtdeutschen Partei, der F.D.P. Die Liberalen, zusammen.
Die Gründung einer zunächst Sozialdemokratische Partei der DDR genannten Partei erfolgte am 7. Okt. 1989 in Schwandte. Sie verstand sich von Beginn an nicht nur als politischer, sondern auch rechtlicher Nachfolger der 1946 mit der KPD zur SED vereinigten SPD und dabei als gleichberechtigter, integrierter Teil einer gesamtdeutschen Sozialdemokratie.
In der SED bekannten sich im Verlauf des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs in den Jahren 1989/90 reformwillige Kräfte in der zunächst in SED-PDS umbenannten Partei zur Notwendigkeit einer personellen und inhaltlichen Erneuerung sowie zu den Zielen eines demokratischen Sozialismus. Die PDS verstand sich in der Folgezeit als Opposition mit gesamtdeutschem Anspruch und als Vertreterin besonders der Interessen der Bürger in den Neuen Bundesländern.
Im Januar 1990 wurde das Bündnis 90 zwischen dem Neuen Forum, Demokratie Jetzt, der Initiative Frieden und Menschenrechte, der Grünen Liga, der Grünen Partei, dem Unabhängigen Frauenverband und der Vereinigten Linke als Wahlbündnis für die Volkskammerwahlen angekündigt. Schon Mitte Januar schied die Vereinigte Linke wieder aus dem Bündnis aus u. a. mit der Forderung nach Beibehaltung der deutschen Zweistaatlichkeit. Auch eine Einigung mit der Grünen Liga, der Grünen Partei und dem Unabhängigen Frauenverband scheiterte an den unterschiedlichen Auffassungen der Bürgerbewegungen zu einer möglichen Erneuerung der DDR. So blieben allein das Neue Forum, Demokratie Jetzt und die Initiative Frieden und Menschenrechte im Wahlbündnis 90.
Als weitere Bündnisse zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 und darüber hinaus bildeten sich v. a.
-
Die Grünen/Senioren/Unabhängiger Frauenverband (Grün-Grau-Lila),
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die Vereinigte Linke und Die Nelken,
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die Alternative Linke Liste (Unabhängiger Frauenverband, DFD, Vereinigte Linke,
Alternative Jugendliste und Die Nelken) und
- die Wahlplattform PDS/Linke Liste (PDS, fdj, KPD, Marxistische Partei, Die Nelken, USPD).
Mit Blick auf die Kommunalwahlen im Mai, die Landtagswahlen im Oktober und die Bundestagswahlen im Dezember 1990 bildeten das Bündnis 90 und Die Grünen der BRD ein Wahlbündnis Bündnis 90/Die Grünen/BürgerInnenbewegungen. Im weiteren Verlauf vollzogen im Jahre 1992 beide Partner, Bündnis 90 und Die Grünen, ihre organisatorische und personelle Vereinigung mit einem Assoziationsvertrag am 23. Nov. 1992, der am 17. Jan. 1993 in Hannover von den parallel tagenden Bundesversammlungen beider Parteien bestätigt wurde.
- Bestandsgeschichte
Das überlieferte Sammlungsgut wurde vom Zentralen Parteiarchiv der SED und vom Zentralen Staatsarchiv in Potsdam unabhängig voneinander seit dem Herbst 1989 gesammelt.
Das Zentrale Parteiarchiv konzentrierte sich dabei in erster Linie auf die Überlieferung der SED-PDS. 1993 wurde dieses Material, zeitgleich mit der Überführung des Zentralen Parteiarchivs in die SAPMO, in die Zuständigkeit des Referates AG 1 übergeben.
Das Zentrale Staatsarchiv bzw. ab Okt. 1990 das Bundesarchiv orientierte auf die Sammlung von Materialien des gesamten Spektrums der politischen Kräfte in der Wendezeit. Dieser weitaus größere Teil der Sammlung wurde im Jahre 2000 an das Referat AG 1 der SAPMO übergeben.
Insgesamt konnte auf diese Art und Weise ca. 2 lfm Schriftgut zusammengetragen werden. Der Bestand umfaßt fast ausschließlich gedruckte Einzeldokumente.
Den größten Überlieferungskomplex bilden die Materialien der SED-PDS im Umfang von ca. 21 Akteneinheiten. Das Sammlungsgut der PDS umfaßt neben Dokumenten über den Prozeß der Erneuerung v. a. Öffentlichkeits- und Wahlkampfmaterialien sowohl des Bundesvorstandes der PDS und der PDS-Fraktion des Bundestages als auch das der Landesvorstände und der Landtagsfraktionen, insbesondere des Landes Brandenburg.
Von den DDR-Blockparteien sind größere Überlieferungen v. a. der CDU und der LDPD vorhanden, u. a. Materialien zum Prozeß ihrer Erneuerung und zur Herausbildung gesamtdeutscher Wahlbündnisse und Parteien. In etwas geringerem Umfang werden die Blockparteien DBD und NDPD in Dokumenten dieser Zeit widergespiegelt.
Umfangreich sind Materialien des Neuen Forum überliefert. Sie umfassen in 7 Akten seine Entstehungsgeschichte ebenso wie die verschiedenen Tätigkeitsfelder dieser Bürgerbewegung in der Wendezeit. Nachweisbar sind die Auseinandersetzung des Neuen Forum zu Demokratie und Menschenrechten, zu Wirtschaft und Ökologie in der DDR sowie zu Kultur und Bildung. Größeren Raum nimmt ferner die Klärung seines Selbstverständnisses bzw. seines Status ein, d. h. hier die Entscheidung hinsichtlich seines Wirkens entweder als originäre Bürgerbewegung oder als wählbare Organisation mit parteiähnlicher Struktur.
Neben den Materialien zu o. g. Parteien, Organisationen und Bewegungen umfaßt das gesammelte Schriftgut auch Dokumente zur Tätigkeit von Jugend-, Frauen- und Seniorenverbänden, zu Gewerkschaften und Aussagen zur Tätigkeit kleinerer und wenig bekannter Parteien unterschiedlicher politischer Ausrichtung aus dieser Zeit.
- Archivische Bearbeitung:
Die Materialien der Parteien, Organisationen und Bewegungen der Wendezeit sind im wesentlichen in zwei Schritten und zu unterschiedlichen Zeiten geordnet und verzeichnet worden.
Bereits 1995 wurde das vom Zentralen Parteiarchiv (ZPA) gesammelte Material von einem Praktikanten vorläufig erschlossen. Im Ergebnis lagen 15 Akteneinheiten vor, verzeichnet mit Aktentitel und überwiegend knappen Enthält-Vermerken. Der bearbeitete Teil umfaßte zu dieser Zeit v. a. Akten der Provenienz SED-PDS aus den Jahren 1989-1991 und war sachthematisch gegliedert. Der ursprüngliche Umfang von 0,5 lfm wurde durch Kassation auf ca. 0,25 lfm reduziert.
Mit der Bearbeitung des weitaus größeren Teils des Bestandes wurde im Jahr 2000 nach der Übernahme des Sammlungsgutes vom Referat DDR 1 des Bundesarchivs begonnen.
Das Druck- und Schriftgut war zum Zeitpunkt der Übergabe nach den einzelnen Parteien, Organisationen und Bewegungen grob vorsortiert und umfaßte ca. 2 lfm. Im Zuge der Erschließung wurden aus dem vorliegenden Material Akteneinheiten gebildet. Im Regelfall war das Kriterium hierfür die jeweilige Organisation, bzw. sachliche und territoriale Aspekte. In einigen Fällen wurden aus inhaltlichen Gründen mehrere Organisationen in einer Akte zusammengefaßt. Innerhalb der Akteneinheiten wurden die Dokumente chronologisch geordnet. Die einzelnen Akten sind durch Aktentitel, ausführliche Enthält-Vermerke und die Laufzeit beschrieben. Die bereits 1995 verzeichneten 15 Akteneinheiten wurden mit den neu entstandenen abgeglichen und nur in wenigen Fällen mit ihren Signaturen in der ursprünglichen Form belassen. Die Mehrzahl der Dokumente wurde in die neu verzeichneten Akteneinheiten aufgenommen.
Die Kassation umfaßte v. a. Doppelstücke. Im übrigen wurden nur wenige überlieferte Dokumente als nicht archivwürdig bewertet. Im Zuge der Bearbeitung entstanden 97 Akteneinheiten mit insgesamt ca. 1,75 lfm.
Inhaltliche Charakterisierung
Die Sammlung beinhaltet v. a. Flugschriften, Wahlargumentationen, Statuten, Programme, politische Analysen, Zeitungsausschnitte, Selbstdarstellungen und Veranstaltungsmaterialien von Parteien, Organisationen, Bewegungen und Verbänden, von Wahl- und Bürgerbündnissen v. a. der CDU, SDP-SPD, SED-PDS, PDS, DSU, LDP, F.D.P. der DDR, Deutschen Forumpartei, der Allianz für Deutschland, des Bundes Freier Demokraten; des Neuen Forum und Demokratie Jetzt.
Erschließungszustand
Findbuch, Onlinefindbuch, vereinzelte Digitalisate
Umfang, Erläuterung
97 AE
Zitierweise
BArch SGY 20/...